Die Lusthemmung des Weltkaisers



"Die Lusthemmung des Weltkaisers oder das Chiliadon von Neu-Addis Abeba" ist eine Art Roman. In der bewährten Form der utopischen Sozialsatire wird entschieden das Böse in der Welt gegeisselt. (unveröffentlichtes Manuskript- Verleger/in gesucht!)

Die Anfangskapitel:



KAPITEL 1:


Kleine Fluchten


Seine Füße hämmerten im Stakkato auf den brüchigen Asphalt. Ein Blick über die Schulter hätte seine Situation nicht verbessert, so unterließ er ihn. Sein Kopf war vollständig leer, seine Lunge schmerzte, das Herz schlug an der äußersten Grenze seiner Leistungsfähigkeit. Er fühlte nichts, er hatte in diesem Augenblick keine Empfindungen, es gab nur den Impuls, noch schneller, noch schneller. Teilweise zerstörte, teilweise noch bewohnte, lediglich bis zur Baufälligkeit mißhandelte, verweste, verwitterte, durch das Band des löchrigen, abgenutzten Asphalts verbundene, Häuser, Häuserreihen, rasten an ihm vorbei, er registrierte sie nicht, in diesem Viertel war er nie gewesen, wenn Menschen ihr Geschick erkennen könnten, wenn es ihm möglich gewesen wäre, in diesem Augenblick Reflektionen anzustellen, die Prognose wäre nicht zu gewagt gewesen, niemals würde er dieses besonders schäbige unter den vielen schäbigen Vierteln Neu-Addis Abebas, der Stadt, die vormals unter dem Namen ,,Berlin" bekannt war, wieder betreten.
Auch nach dieser langen Zeit, den Zerstörungen, dem Krieg, den Unruhen, der Not war es noch ein so gewaltiger Haufen Beton, Steine, Ruinen, Wohlstandsinseln, Hütten, Paläste, Militäreinrichtungen, ehemaliger Lager und Olympiastadien, das es dem mit einer normalen Lebenserwartung Gesegneten unmöglich war, mehr als einen Bruchteil in einem Leben kennenzulernen, abgesehen davon, daß absolut kein Grund existierte, sich das gesammelte Elend und das unerträglich wenig Schöne, verkrüppelte Stadt und die Narben brutalster Auseinandersetzungen, Mangel und Verfall, stinkender Kohlrübengeruch abwesender Gegenwart, in aller Breite anzusehen, es tat gut, sich durch alltägliche Gewohnheit und durch die Beschränkung auf die immer gleichen Wege abzustumpfen gegen die quälende Wahrnehmung der moribunden Umgebung. Die Füße hämmerten weiter. Um diese Zeit gab es wenig Geräusche, wenn die Gebäude- oder ihre verwesten Reste- enger zusammenrückten, links und rechts der schadhaften Straße mit verrosteten, fast immer unleserlichen Straßenschildern, hörte er seine Schritte als hohle Echos, durch das Rauschen und Dröhnen in seinen Ohren, dem stechenden Schmerz in seiner Brust und gegen das unerbittliche Diktat des ,,Weiter!" in seinem fast paralysierten Hirn.
Mehr aus Instinkt, als aus einer konkreten optischen Wahrnehmung heraus, schlug er einen knappen Haken, verließ die verblühte Hauptstraße, hechtete über die traurigen Trümmer des ehemaligen Trottoirs und verschwand in einer Toreinfahrt. Früher war die Einfahrt durch zwei riesige Stahltüren verschlossen gewesen, ein Flügel fehlte ganz, der andere hing in einer Angel, verrostet und verformt. Er konnte sich nicht vergewissern, ob seinem Manöver Erfolg beschieden gewesen war, er hetzte weiter, nach der kurzen Kurve wieder voll in die Gerade gehend, -in seinem Fall war es eine langgezogene, geteerte Einfahrt, zu seinem Glück ohne größere Schlaglöcher und andere Stolperfallen. Er nutzte die erste auftauchende Abzweigung, schlug einen unregelmäßigen Kurs zwischen den verwesenden Fabrikgebäuden ein, sah eine rachitische alte Feuerleiter, die an der Außenwand eines mutmaßlichen Lagerhauses auf einen eisernen Umgang führte. Er ergriff entschlossen den Handlauf, trippelte mit kurzen Schritten hinauf, einzelne Stufen brachen unter ihm weg, aber er kam dadurch nicht ins Zögern, oder gar ins Stolpern. In einem Museum hatte er einmal alte Sportschuhe aus einem exotischen, für heute wahrscheinlich unerschwinglichen oder in er Herstellung zu komplexen Kunststoff betrachtet, so etwas in dieser Art hätte ihm jetzt bessere Dienste geleistet als die klobigen, ausgetretenen Soldatenstiefel die er trug. Hechelnd sog er Luft ein, seine Zunge klebte vertrocknet im Mund, als dicker, quälender Klumpen, er hatte unsagbaren Durst, egal. Er hetzte die längere Seite des rechteckigen Gebäudes entlang, bog zur Schmalseite und jubelte: vor dieser Hausfront verliefen in einen tiefen Graben verlegte Schienen, die Grabenseiten waren mit grau verfärbten Ziegeln verkleidet, oben mit einer Mauer mit Drahtverhau abgegrenzt, über dieses Hindernis führte ein schmaler Steg, nur noch an wenigen Stellen intakt, er würde an den Stahlseilen, mit denen der Steg verspannt war, auf jeden Fall auf die andere Seite können- den Trupp seiner Verfolger würde die desolate Konstruktion nicht verkraften. Er stützte sich an beiden Seiten auf die Geländer, ignorierte das bösartige Knirschen der Eisenplatten unter seinen Füßen, wuchtete sich mit beiden Armen über die Stellen, wo der Boden schon komplett weg gebrochen war, fühlte die unvermittelte, aber hoch willkommene Kühlung durch den aufkommenden Nieselregen, tauchte auf der gegenüberliegenden Seite in einen überdachten Abgang und registrierte in aller Hast mit einem zufriedenen Grinsen, daß die kleine Eisenbrücke in ihm ihren letzten Nutzer hatte,- durch sein Gewicht war ein größeres Stück der Bodenplatten heraus gebrochen, nun klaffte eine auch durch Akrobatik nicht mehr überwindbare Lücke, unterhalb waren es vielleicht acht, wenn nicht mehr, Meter bis zu den Geleisen. Die Gebäude in der unmittelbaren Umgebung waren sehr zerfallen, er glaubte bemerkt zu haben, daß seine Verfolger keine Hunde mit sich führten, in diesem unübersichtlichen Gelände würde er jedes Geräusch hören,- er konnte also riskieren, sich nach einem geeigneten Versteck umzusehen und sich von der Strapaze dieses Gewaltsprints zu erholen. Er verfiel in einen leichten Trab, sicherheitshalber wollte er möglichst viel Abstand zwischen sich und der Meute in seinem Rücken- mit ganz viel Glück hatten sie möglicherweise sein Abbiegen nicht bemerkt, auf der Hauptstraße lagen viele Trümmer, viel Müll, vor der Einfahrt lag eine leichte Biegung- durchaus möglich, daß sie geradeaus weiter waren oder ihn in dem Gewirr des Fabrikgeländes verloren hatten. Er sah einen dunklen, offenstehenden Eingang an einem noch etwas solider wirkenden Gebäude, er warf den Kopf nach links und rechts, machte eine Volldrehung, - niemand zu sehen,- mit einem Sprung war er durch die Tür.



KAPITEL 2:



Die meisten Unfälle passieren im Haushalt


Hastig passierte er den Eingangsbereich. Durch die meist blinden Scheiben fiel wenig Licht, nur wo sie zerschlagen waren oder der Regen den Dreck nicht so mächtig hatte werden lassen, kam etwas funzlige Helligkeit. Es roch süßlich-dumpf, leicht penetrant, unter vielen Nuancen auch ein Hauch altes Schmieröl, gemischt mit einer Ahnung vergleichbar dem Eigengeruch ranzigen Smegmas, mit der Zeit legte sich der Geruchscocktail wie ein Film über die Empfindungen. Vorsichtig überstieg er Trümmerbrocken, er hoffte inständig, das Gemäuer würde nicht ausgerechnet jetzt einstürzen, Vertrauen erweckte es nicht. Sobald das wahnwitzige Jagen in seiner Brust etwas nachgelassen hatte und er mit seinen Ohren wieder etwas anderes wahrnehmen konnte als das Brausen des eigenen Blutes, versuchte er über seine Umgebung Klarheit zu erhalten. Er horchte. Es war aber nur entferntes Klappern zu hören, wahrscheinlich vom Wind, ausgedörrte Fensterflügel, es war ruhig wie in einer Totengruft, von den Geräuschen der Stadt war erst recht nichts wahrzunehmen, das Fabrikgelände zu weitläufig, er inzwischen zu weit von allen benachbarten Straßen, zu seiner großen Beruhigung war auch nichts, was sich wie Schritte, Stimmen, Schreien, Trampeln anhörte. Er wurde ruhiger. Er begann an Türen, die in unregelmäßigen Abständen in dem Korridor, den er entlang ging, auftauchten, zu rütteln. Einen Augenblick ausruhen, Gedanken fassen. Der Sprint,- wie er die Flucht bei sich nannte,- hatte ihm alles abverlangt. Nach einigen Versuchen mit Scheitern an verriegelten Schlössern verlor er die Geduld und trat mit dem Stiefel entschlossen unter eine Türklinke. Der gesamte Mechanismus zerbröselte. Erschrocken vor der eigenen Courage zögerte er einen Augenblick. Nichts rührte sich. Es war immer noch gruftstill. Die Tür schwang auf. Quietschend. Mit einem gequälten Schnarren war sie am Anschlag. Ungeduldig rüttelte er heftiger. Er verspürte einen Schlag, dann heftigen Schmerz, explosionsartig. Warmer Saft lief ihm über das Gesicht. Der schummrig-dämmrige Raum drehte sich um ihn. Ihm wurde schwindling. Unsicher schwankte er vor und zurück. Er streckte einen Arm aus und suchte Halt. Mit einer Halbdrehung stürzte er. Butz, der Lieblingslustknabe, der Liebling, die heiße Sehnsucht seines Herrn und Meisters, des monomanen Gewaltherrschers, Gegenstand und große Liebe gleichzeitig, Gefährte lustvoller Tage und Nächte eines der Mächtigsten des Zeitalters, verlor das Bewußtsein. Er tauchte in undurchdringliche Schwärze. Er konnte nichts verdächtiges wahrnehmen. Als sich seine Augen an das noch dunklere Dämmerlicht zu gewöhnen begannen, trat er ein. Fast tastend arbeitete er sich vor. Er konnte nicht weiter, seine Schenkel krampften, er mußte ausruhen, nachdenken, vielleicht. Der Raum war mit unbestimmbaren Gegenständen gefüllt. Er stand vor einer Art Schrank, er mußte sich einen Weg um ihn bahnen. Er versuchte, probehalber, ihn aus dem Weg zu rücken. Auf ihm klapperte etwas.



KAPITEL 3:



On Any Normal Monday


Die graue Schwere einer beginnenden Woche... halberkaltetes Blei vor einem undefinierbaren Himmel. Montag. Träge schleppt sich die Welt zu ihren mehr oder weniger beschwerliche Aufgaben. Entsetzliche Qual sich meldender Wecker. Tötendes Tuten, Vertreibung aus dem einzigen Paradies, das der tumben Menschheit geblieben war,- dem Nachtschlaf, und selbst dieser oft genug durchsetzt von den grausigsten Nachtmahren. Die zitternden Finger Leanders, erst einige Male vergeblich die Luft um den Wecker umrührend, schließlich doch auf dem "Aus" - Knopf landend. Stille. Wie ein Schlag auf den Kopf trifft die Erkenntnis, eine neue Woche, neuer Tag, neue Plag, in Leanders Bewußtsein die dumpfe Ahnung, in eine Welt aus Ärger zu erwachen, Ahnung drohenden Unheils. Drängender Nachdurst, klopfende Kopfschmerzen, der Kreislauf schleift über die wurmstichige Auslegware. Leander zwängt seinen unsicher zwischen schlapp und massig lavierenden Körper in die schmierige Dusche. Das Wasser riecht faulig und schweflig, nicht das Gefühl, sauber zu werden, sondern sich im verschleimten Trog eines Kurbrunnens zu suhlen. Ihm scheint, das Kopfweh nimmt durch die Ausdünstungen der Brühe noch zu. Leanders Zunge klebt an der Mundhöhlenwand, schier bewegungsunfähig, das Gaumenzäpfchen trocken wie eine postklimakterielle Klitoris. Mit einem muffigen Handtuch tapsige Versuche sich abzutrocknen, noch einmal mangels Alternativen die schon wechselreife Wäsche, aus den Winkeln eilig-trunkenen Zubettgehens zusammensuchend. Leander steht in der Mitte seines Wohnraumes, ringt nach Fassung. Durst. Er tappt zum Wasserhahn, in der sicheren Ahnung, das Bedürfnis, den Unbillen seines Berufes in die Welt feucht- fröhlicher Träume zu entkommen, habe einmal mehr einen geordneten, organisierten Einkauf verhindert, mithin war sein Haushalt völlig frei von Nährmitteln und Getränken, höchstens, in einem stillen Winkel hätte sich die eine oder andere Flasche an sich ungenießbaren Inhalts gehalten, deren Stunde nur in Fällen äußerster Not, drohender Nüchternheit zum Beispiel, schlagen würde. Also der Wasserhahn.- Träge Drehbewegung, der erste Schwall wie üblich rostfarben, dann die Schwefelfahne. Leander bäugt sich zum kühlen Metall, die Flüssigkeit netzt seine Mundhöhle, gierig schluckt er, dabei angestrengt den brechreizerregenden Geschmack ignorierend. Wenn Wasser der Stoff des Lebens ist, so war in seiner Welt das Leben eine ziemlich trübe Brühe.



KAPITEL 4:



Noch 670 Kilometer bis Neu-Addis Abeba


"Du bist ja verrückt mein Kind/
Geh doch nach Berlin/
da wo die Verrückten sind/
da gehörste' hin.../ "

(Ein Lied aus einem alten Film)


"On my way to Berlin... I don't care... On my way to Berlin...
I don't care at all... I don't care.... I don't care..."


(Crawling Chaos, "Berlin")



Der Durchbruch war einfach gewesen. Die Front war etwas Wesenloses. Mal war sie da, mal nicht. Sich auflösende Konstellationen, sich auflösende Topographie. Aus der Essenz der Militärstrategie hatte sie sich in das große Rätsel, die große Unbekannte bewaffneter Auseinandersetzungen verwandelt. Ihr Vorhandensein bedeutete nicht automatisch Kampf und Untergang. Genauso wie ihr Nichtvorhandensein keinesfalls Überleben, ja Sicherheit bedeuten mochte. Krieg war Prinzip, war Existenz und nicht unbedingt bewaffnete Auseinandersetzung. Inmitten zerstörter Landschaften, verbrannter Erde, verseuchten Gebieten und den gespenstischen Schatten verschwundener Städte bedeuteten Geländegewinne nur mehr eine statistische Größe, hingehuschte Skizzen über illusionär gewordenen Landkarten, das Leben war eine Randnotiz, etwas, das sich in den noch brauchbaren Resten einquartierte, das die wenigen Pfade und Stege zwischen den Monumenten des absoluten Todes nutzte. Der Weg von Asien hierher, nach Westen, geographisch gesprochen, war extrem beschwerlich, die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns, des Untergangs wesentlich größer, als die des Gelingens, ein mühsames Tasten durch eine sich ständig ändernde Konfiguration von Bedrohungen und potentiellen Untergängen. Der Trupp war in schlechter Verfassung, aber es gab ihn noch, ohne Frage. Hassan-il-Shabaa, der Kommandeur und geistliche Leiter des Unternehmens, schätze die Verluste auf gut Zweidrittel des ursprünglichen Kontingentes. Bei dieser Feststellung regte sich keinerlei Bedauern oder gar Mitgefühl in seiner Psyche. Die Kämpfer waren Heilige Krieger, die Jihad hatte sie hierher geführt. Die Toten waren längst im Paradies, lagerten um den Lethesee, inhalierten die Heilung der Nationen und pumpten ihre nie versiegende Manneskraft in die Schöße schöner ewig jungfräulicher Huris, die bereitwillig ihre Schenkel öffneten, wenn sie nicht gerade den reinen, nicht berauschenden, Wein des Paradieses kredenzten. Die Jihad brachte Segen und reichen Lohn allen die daran teilhatten und ihr Leben für die Heilige Sache setzten. Ihre letzte Operation hatte sie auf ausgeklügelten Schleichwegen durch die westlichen Sümpfe des ehemaligen Rußland,- dieses heimgesuchte Gebilde, zerrüttet in ewigen Bürgerkriegen, untergegangen im globalen Kampf um Ressourcen,- Hassan dachte für sich immer diese Heimsuchungen als Lohn und Strafe des Atheismus, deswegen verspürte er auch für dieses Schicksal kein Bedauern, im Gegenteil, wilden Triumph und Bestätigung seiner Weltsicht, geführt, was bedeutete, daß die größten Schwierigkeiten hinter ihnen lagen. In Eilmärschen näherten sie sich der imaginären Linie, die etwa die Grenze des antiken Polens bildete, er hatte sich in alten Büchern über Geographie und Geschichte dieses Erdteils informiert, soweit sich die Dinge noch rekonstruieren ließen. Die Bedeutung dieser Situation war ihnen völlig klar: sie marschierten nun nicht mehr durch gefährliches, aber numinos- herrenloses Terrain, nur unterteilt in Gefahren durch physikalisch-biologische Phänomene, Strahlung, Krankheitskeime, Minen und andere militärische Hinterlassenschaften, nein, inzwischen näherten sie sich einem Kemgebiet des Kaisers, ein Gelände, in dem er und seine Machtmittel stetig präsent waren, wo mächtige Interessen auf dem Spiel standen und durchgesetzt wurden. Ihnen blieb nichts anderes, als sich auf das Wohlwollen und den Segen des Allmächtigen und Allbarmherzigen zu verlassen. Ihre Gebetspausen wurden intensiver und inbrünstiger. Die Jihad führte sie und der Segen des Allerhöchsten würde auf ihnen ruhen. Sie waren ein Selbstmordkommando. Der Kaiser, residierend in Neu-Addis Abeba, dem antiken Berlin, Hassan hatte sich auch über diese Umstände sachkundig gemacht, war als Atheist und Selbstvergötterer ausgemachter Todfeind. Erschwerend kam hinzu, man hörte allüberall Gerüchte über dessen Hang zur Knabenliebe, ein Gräuel für jeden Rechtgläubigen. Seit sie aus ihrem kleinen Reich, versteckt in unzugänglichen Seitentälern im früheren Afghanistan, zur Jihad aufgebrochen waren, flackerte der unauslöschliche Haß auf den Kaiser und seine Herrschaft durch ihre Seelen. Alles, buchstäblich alles, hatten sie auf sich genommen um ihn vom Antlitz der Erde zu tilgen. Der Weg der Kämpfer führte durch ein kleines, heruntergekommenes Dorf. Ihr Vorgehen war Routine. Männer und männliche Kinder wurden sofort massakriert, unter den weiblichen Bewohnern sonderte man die Jungfrauen aus, die Kämpfer durften aus diesen Partnerinnen für eine Ehe auf Zeit wählen. Der Rest erlitt das selbe Schicksal wie die Männer. Vorräte ergänzen, Brauchbares einsammeln, die Häuser anzünden. Die Kolonne bewegte sich weiter. Natürlich konnten sie sich bei der Annäherung an das Innere des Feindes nicht mehr bei Tag sehen lassen, sie marschierten in der Nacht, durch das unwegsamste Gelände, bei Tag hielten sie sich versteckt, die Kämpfer beteten oder feierten Hochzeit mit den Feindesfrauen. Hassan-Il-Shabaas Geigerzähler gab Alarm. Vor ihnen lag ein hochkontaminiertes Gebiet. Da sie durch ihre Mission sowieso direkt ins Paradies einzugehen gedachten, konnten sie ihre Trumpfkarte ausspielen: ohne Zögern marschierten sie auf ihrem Weg durch schwach- bis- mittelverstrahlte Gebiete. Jemand, der ein hohes Alter erreichen wollte, um sodann eines natürlichen Todes zu sterben, hätte solches natürlich nie unternommen. Niemand konnte mit ihnen rechnen, sie, die durch weg-, und stegloses Niemandsland schlichen. Dennoch mußten sie ihren Plan überdenken. Die Dosisleistung in dem vor ihnen liegenden Gebiet war zu hoch. Wenn sie vor der Erfüllung ihrer Aufgabe strahlenkrank wurden und starben war niemand gedient. Die rächenden Kugeln der kaiserlichen Soldaten würden ihnen nach der Erfüllung ihrer Mission die drohenden Qualen ersparen... Der Kommandeur ließ die Route ändern. Man unternahm ein weiträumiges Umgehungsmanöver. Dies bedeutete natürlich zusätzliches Risiko, je weiter sie sich aus der maroden, abgeschiedenen Wildnis entfernten. Von überfallenen kaiserlichen Einheiten hatten sie sich im Handstreich einige jüngere Satellitenphotos besorgt, zusammen mit den uralten, ausgeblichenen Karten in Hassans Besitz hatten sie eine Marschroute durch menschenleere, entlegene, verlassene Landschaften, an denen bedauerlicherweise kein Mangel herrschte, ausgetüftelt. Jede Abweichung von der geplanten Route konnte Konfrontation mit einem mächtigen Gegner bedeuten. Sicherheitshalber ließ er die Ehen auf Zeit beenden, jeder Ballast erhöhte das Risiko. Ein paar Dutzend schrecklicher Schreie, als man den Ehefrauen auf Zeit die Kehlen durchschnitt. Die Leichen ließ man achtlos liegen. Die Steigerung von Frau war Frau eines Ungläubigen. Stunden marschierte man angespannt in südwestlicher Richtung. Erstaunen beschlich die heiligen Kämpfer als man für ein, zwei Stunden Marsch durch ein zusammenhängendes Waldgebiet kam, sie kannten nur einzeln stehende Baum, -und- Buschgruppen in der allumfassenden Steppe. Europa schien immer noch gesegnet, Wälder kannten sie nur aus vagen Erzählungen. Der Wald gab sie wieder frei. Sie mußten im Schutz des Waldrandes Deckung nehmen, Richtung und Orientierung wieder herstellen. Hassan schickte Späher aus. Das Land lag menschenleer. Nach einer guten Stunde kehrten die Kundschafter ohne besondere Beobachtungen zurück. Er befahl, ihre Tarnungen aufzufrischen, man brach Zweige und befestigte sie an den Uniformen. Vorsichtig, nach allen Seiten sichernd, brach man in die offene Steppe aus. Zufrieden registrierte er den Gewinn an Geschwindigkeit im offenen Gelände. Vor ihnen tauchte immer wieder unter dem Sand und dem Schmodder der Steppe Reste eines harten, grauen Belages auf. Hassan grübelte über den Ursprung dieses offenbar künstlich hervorgerufenen Phänomens nach. Er vermutete, es müsse sich dabei um die Überreste der sogenannten "Autobahnen" handeln, von denen man sich erzählte, sie hätten dermaleinst als dichtes Netz überall existiert. Sein Blut erstarrte. Ein Brausen und Jaulen erfüllte die Luft dieses grauen, heran dämmernden Standardtages. Im Tiefflug näherte sich eine Staffel Kampfhubschrauber. Sie waren aus dem Dunst über der Steppe gebrochen, nun kamen sie rasend schnell näher. Hastig schrie er seine Kommandos, winkte seinen Kämpfern, wie in Trance machte man die Maschinengewehre und das Flugabwehrgeschütz, eines der wenigen größeren Ausrüstungsteile, die sie mit sich führten, schußfertig. Der Abstand betrug keine hundert Meter mehr als sie anfingen, ihre Geschoßgarben gegen die Hubschrauber zu schleudern. Zwei Maschinen gerieten sofort in Brand und krachten auf den Steppenboden. Dann war die Staffel über ihnen. Männer schrien in Todesschmerz. Die Maschinenkanonen ließen ihnen keine Chance, flächendeckend spuckten sie Tod und Vernichtung. Luftminen detonierten zwischen ihren Reihen. Durch die menschliche Wärmeemission gesteuerte Drohnen surrten bösartig und fanden ihre Opfer. Das Gegenfeuer der kleinen Schar wurde spärlicher, erlosch ganz. Die Mission der muselmanischen Punks, aufgebrochen aus ihrer fernen Heimat, um den agnostischen, basssüchtigen, frevelnden Weltkaiser auszuschalten, war gescheitert. Sterbend, kurz bevor seine Augen endgültig erloschen, blickte Hassan Il-Shabaah auf einen merkwürdigen Gegenstand. Eine Art Schild, seltsamerweise war es stehengeblieben und nicht zugewuchert oder zugeschüttet worden. Es war verbogen, Stücke fehlten, die blaue Farbe der Hassan zugewandten Seite war stellenweise abgeplatzt. Trotzdem ließ sich die für Hassan in diesem Augenblick schon nicht mehr verstehbare Botschaft vom Kundigen entschlüsseln: "Berlin, 670 Km" . Die Hubschrauberstaffel verschwand mit bösartigem Dröhnen in der Ferne.



KAPITEL 5:



Rites de Passage


Leander genoß seinen dienstfreien Abend. Er hatte die Auswirkungen des unbedachten Genusses von Leitungswasser neulich besser weggesteckt wie die Figuren vom Medizinischen Dienst vorhergesagt hatten. Die Vergiftungssymptome waren abgeklungen, der aufkeimende Krebs durch die modernen Medikamente, die den Angehörigen der verschiedenen Armeeverbände zur Verfügung standen, im Ansatz erstickt. Entspannt ließ er sich durch eines der moderneren Viertel im Zentrum der Stadt treiben. Es gab nur wenige Bars, wo er nicht Gefahr lief, Kameraden zu begegnen; nichts haßte er mehr als endlose Fachsimpeleien, Scheingespräche über die Arbeit, im Grunde nur eine Tarnung um die Kieferbewegungen beim Getränkeverzehr zu kaschieren. Wenn er dienstfrei hatte, wollte er seine Ruhe, Vergessen, - und sonst gar nichts. Um den Einflußbereich der Erdschwerkraft möglichst schnell zu verlassen, genehmigte er sich erst einmal einige Schnäpse in einer Stehbierhalle. Einige ältere Prostituierte drückten sich in der Nähe herum, im Moment nichts für ihn, aber dankbar griff er zu, als ein noch etwas jüngerer Stricher, der sich offenbar wie er selbst, vor den weiteren Unternehmungen des Abends erst einmal in Stimmung bringen mußte, ihm einen kolosalen Reefer anbot. Sie grinsten sich an und wechselten einige belanglose Nettigkeiten, dabei zogen sie den süßen Rauch und wetteiferten, ihn so lange wie möglich in den Lungen zu lassen. Der Stricher versuchte noch eine Verabredung für später am Abend herauszuschinden, aber Leander ließ es bewußt offen, noch war ihm nicht klar, ob er tatsächlich irgendjemand um sich herum haben konnte, sei es auch nur um gemeinsam den Rausch auszuschlafen, möglicherweise mit der nicht unwillkommenen Dreingabe zärtlicher Entspannung, seitdem die sexuelle Orientierung des Kaisers ein offenes Geheimnis war, versuchte jeder diesen so gut es ging nachzuahmen, das Zeitalter stand daher ganz im Wahrzeichen offenherziger Pansexualität. In Leanders Stimmungsbild war jedoch heute- wie auch schon die Tage zuvor,- eine ausgeprägte Melancholie im Vordergrund, weniger Sehnsucht nach Nähe und Zärtlichkeit. Gleichzeitig wollte er nichts mehr, als total und kompromißlos in Ruhe gelassen werden. Zugegebermaßen ein Zielkonflikt. Er ging sich selbst auf die Nerven. Möglicherweise eine Nachwirkung der schweren Vergiftung neulich. Seine Melancholie ließ sich nicht abschütteln, sie hing an ihm wie eine besonders hartnäckige Zecke. Vielleicht machte sein Dienst im kaiserlichen Palast ihn langsam zum Wrack, die dauernde Anspannung, die Gegenwart so vieler ekelhafter Menschen, das dauernde Mißtrauen, seine Angst zu versagen, die mit ihm intrigant wetteifernden Kameraden, seine Einsamkeit, er hatte auf jeden Fall das Bedürfnis, eine gewaltige Menge Flüssigkeit darüber fließen zu lassen. Er machte sich wieder auf den Weg. Die Straßen waren gut mit Flaneuren jeglichen Typs gefüllt, alle wirkten etwas ärmlich, nur wenig Glamour in diesen Tagen. Sein Blick blieb auf einer grellen Leuchtreklame hängen. "Rites de Passage- Travestieshow" las er. Einen Augenblick war er unschlüssig. Die Aussicht, ein Spektakel geboten zu bekommen, nicht denken zu müssen, abgelenkt zu sein und dabei noch trinken zu können überzeugte ihn. Er wechselte die Straßenseite und betrat den Club. Rotleuchtendes Halbdunkel empfing ihn. Eine lächelnde Dame nötigte ihn, seine Garderobe bei einem muskulösen Ledermann, der hinter einer Art roh zusammengezimmerter Theke residierte, abzugeben. Zwischen ihr und ihm wechselte ein Geldschein die Hände, mit einer einladenden Handbewegung führte sie ihn in den eigentlichen Gastraum, das rötliche Halbdunkel setzte sich fort, es gab ziemlich abgewetzte Tische, sie wies ihm einen Platz an, zu seiner großen Erleichterung reichte es zu einem Tisch für ihn allein, vielleicht die Hälfte der Tische war besetzt. Einen Moment war er allein mit sich und fühlte sich unwohl, immer hatte er die Angst angestarrt zu werden, es erleichterte ihn ungemein, daß sie seit einiger Zeit gehalten waren, sich in der Öffentlichkeit nur in Zivil zu zeigen, das Herrscherhaus sollte seinen Nimbus des Geheimnisvollen bewahren,- daher schuf man ein Geheimnis um die dort Beschäftigten. Glücklich registrierte er, wie ein freundlicher, ledergekleideter Kellner an seinen Tisch trat, Leander gab seine Bestellung auf. "Showtime in einer Viertelstunde!" bemerkte die Bedienung verbindlich. Dies gab ihm noch etwas Zeit, um in Stimmung zu kommen. Die Getränke kamen rasch. Hastig nahm er große Schlucke, dies half ihm, seinen Gedanken nachhängen zu können, ohne daß sie ihn unter sich begruben, ihn mitrissen in ihre Heimat, das Land der großen Tristesse... Ein Gongschlag ertönte, Scheinwerfer wurden aufgeblendet und bildeten einen hellen Kreis auf der schwarzen, undekorierten Bühne. Ein Mann in schrillen Frauenkleidern betrat die Bühne und winkte dem Publikum mit dem Funkmikrophon, das er in seinen glacebehandschuhten Händen hielt, zu. Höflicher Applaus wurde gespendet. Er machte einen Kußmund und lächelte.
"Meine Lieben! Ich habe das Vergnügen, Euch unsere schärfste Schau anzukündigen," begann er, seine Stimme dabei mit der eigenen Affektiertheit kokettierend. Leander krochen unangenehme Tiere über seine Innereien, Affekttiertheit, besoders in der demonstrativ zur Schau getragenen Variante, ging ihm immer auf die Nerven, er fand schwule Klischees vergangener Tage absolut überlebt, mühsam unterdrückte er aufkommende schlechte Laune. ,,Unsere Obertruppe, die wahnsinnigen "Hormondemokraten" legt jetzt los-Super--ey!". Das letzte Wort war schon heraus geschrien. Das Licht ging vollständig aus, auch der schwüle rötliche Schimmer erlosch.
Ein Spot wurde hochgefahren und fuhr wild durch das Dunkel Er blieb auf einer Ecke der Bühne hängen, wo jetzt ein in einen blauen Glitzerfrack gewandeter schlacksiger Mensch sich zum Publikum drehte, die Hände wie ein Boxer aneinander rieb, sich einen Klavierhocker aus dem Vorhang zog, im Scheinwerferlicht wurde eine gewaltige Burg aus Tasteninstrumenten und elektronischem Gerät sichtbar,- theatralisch hieb der Angestrahlte auf eines seiner Instrumente, ein gewaltiger Tusch ertönte, der unmittelbar in ein sehr basslastiges Thema überging, darüber folgte eine Weile Musik, die offenbar improvisiert wurde, schließlich wieder der Tusch, diesmal noch lauter und dramatischer. Die Musik riß ab, plötzliche Stille. Kurze Dunkelheit, man hörte wie der Vorhang geöffnet wurde, die Scheinwerfer flammten erneut auf, die Bühne wurde in gleißendes Licht getaucht. Man sah eine Südseeszene, Palmen, Sand, mit Plastikfolien angedeutetes Wasser. Eine junge Frau, gekleidet wie man sich früher Südseeinsulannerinnen vorgestellt haben mochte, Tuch um die Brust, ein buntes Baströckchen, Plastikblumenketten, betrat die Szene. Ergänzt wurde ihre Kostümierung durch ein großes Blechschild mit der Aufschrift "Erzählerin" das sie an einer Eisenkette um den Hals trug. Sie lächelte, verbeugte sich in Richtung Publikum, man spendete Applaus. Mit ihrem Mikrophon in der Hand beschrieb sie einen Halbkreis. Es wurde still. "Ihr müßt wissen - ", begann sie zu erzählen, mit einer Stimme, bei der Leander wohlige Schauer das Rückgrat hinunter liefen, ,,- damals, der Krieg. Von allen die fliehen wollten, konnten dies natürlich nur die Reichen und Berühmten. Unsere Geschichte handelt vom Schicksal der in der früheren Demokratie Wichtigen. Gerade ist vor einem ent-(Kunstpause)-zückenden Archipel ihre komfortable Yacht gesunken. Nur wenigen gelingt es in Schlauchbooten zu fliehen. Die meisten ertrinken-(dramatisch)- jämm--er--lich! Es geht los!"
Die Erzählerin warf dem Publikum eine Kußhand zu, schwenkte ihre Arme winkbewegungsmäßig und ging von der Bühne ab. Die Musik setzte wieder ein, eine plätschernde Südseemelodie, der Vorhang wurde einen Augenblick wieder geschlossen. Leander war gespannt. Die erste Person des Stückes war irgendein Politiker der alten Zeit. Er kannte sich mit diesen Leuten nicht so gut aus, obwohl Einige von ihnen immer noch lebten, erstaunlicherweise, teils frei, teils in Lagerhaft, mache waren einfach nicht hinzukriegen, wenn man dem direkten Weg auswich, es mochte auch sein, daß mehrere Personen vermischt waren, er erinnerte sich, kurz vor dem Krieg hatte man sogenannte "Bundeskanzler", was er sich so ein bißchen ähnlich wie den Kaiser vorstellte, einer war ein gewisser ,,Engholz", oder so ähnlich, wohl, gewesen, er konnte ihn aber auch mit jemandem verwechseln, der so wie ein Gemüse hieß, für ihn war dies auch völlig unwichtig. Der Darsteller war als Elvis Presley,- diese Figuren kannte man noch sehr gut, Musik, Film, Medien waren ja nicht untergegangen, Pophelden waren immer noch Pophelden, -verkleidet, er entkrabbelte einem riesigen, stilisierten Rettungsboot. Der Spot tauchte den Schauspieler in gleissendes Licht, viel heller als die Frau dem "Erzählerin"-Schild um den Hals. "Land! Land! Wir sind gerettet!" schrie er. "Oh himmlischer Segen! Wir sind gerettet!" antwortete ihm ein vielstimmiger Chor aus dem Boot. Die Gestalt warf sich auf den Boden und küßte ihn, sie blieb in einer Haltung, die sich vage als mohammedanische Gebetshaltung interpretieren ließ. Eine größere Gruppe wild und bunt kostümierter Figuren verließ das Pappmachegefährt und verteilte sich über die Bühne. Ein imposanter Batman baut sich im Bühnenvordergrund auf, trommelt sich mit beiden Händen auf die Brust und stößt kehlig-gutturale Laute aus. " Der frische Tag schreit nach einem Fick! Jetzt und hier! Batgirl, Alte! Batficktime!" wechselt er in den Bereich der artikulierten Rede. Dabei schwenkt er eine Flasche, die er aus seinem Batumhang geklaubt hat, nimmt einen tiefen Schluck und rotzt auf die Bühne. Er macht einen Schritt auf das verdutzt dastehende Batgirl zu, packt sie, fährt ihr über Brust, Gesäß und mit einem schmierigen Grinsen zwischen ihre trikotbewehrten Schenkel. Er versucht sie zu küssen, sie wendet ihr Gesicht ab. Mit dem Zeigefinger versucht er durch den Trikotstoff ihre Öffnung zu examinieren. Ein anderer Darsteller, mit einer Adenauermaske, -Leander konnte nur grob die Richtung einordnen, für einen Menschen seines Zeitalters waren andere Dinge wichtig, ein guter Song blieb ein guter Song, das Staatsfernsehen zeigte die alten Filme, die alten Schauspieler tauchten immer wieder auf, beim Stand der Geschäfte des Kaisers und der Situation war Propaganda einfach überflüssig- oder sie bestand ganz einfach im Abfeiern der militärischen Aktionen des Herrscherhauses, man brauchte,- außer den Christen vielleicht,- kein politisches Feindbild, deswegen rührte auch keiner den alten Quark der Vorkriegspolitik, der Vorkriegszustände wieder auf, daher war und blieb ein Popgesicht für ihn leichter zu dechiffrieren als eine der alten Politikerfressen, -trat hinter das Paar und schwenkte dabei demonstrativ ein großes Paddel. "It's my turn!" sagte die Figur nonchalant, hieb zu, der voluminöse Batman erfror mitten in seinen heftigen Bewegungen, versteinerte einen Moment, machte eine Halbdrehung und ging zu Boden. Die Adenauermaske griff sich Batgirl, nahm sie in die Arme und fuhr seinerseits prüfend über ihre Brüste. Er drückte sie auf den Boden, das Paar begann pantomimisch einen Geschlechtsverkehr anzudeuten. Schwülstige, zuckrige Musik unterlegte das Geschehen. Die als "Erzählerin" gekennzeichnete junge Frau betrat die Bühne, stellte sich vor das pseudokopulierende Paar, verneigte sich gegen das Publikum. Sie machte eine Seitdrehung und überreichte der Politikermaske etwas gestelzt ein Mikrophon. Die Adenauermaskenfigur packte es, federte sich geschickt über dem auf dem Boden ausgebreitet daliegenden Batgirl hoch, schrie ,,Yeah!" hinein, eine Melodie begann zu spielen, die Gestalt stellte sich in Pose und intonierte ,,My Way", die göttliche alte Frank Sinatra-Nummer. ,,I did it my way..." sang er mit wohlklingender, voller Stimme.
Der Saal raste und spendete Szenenapplaus. Kurz vor Schluß des Songs stellten sich die anderen Schauspieler hinter dem singenden Politiker in einer Choruslinie auf, mit dem Mikrophon in der Hand reihte er sich ein, es begann ein anzüglicher Tanz, eine Weile wogt die Gruppe hin und her, mit einer schwingenden Armbewegung wirft der Sänger das Mikrophon von sich, eine Schauspielerin, die unschwer als Madonna ( mittlere Phase ) zu erkennen ist, fängt es auf, verläßt die Gruppe und stellt sich an den Bühnenrand. Bevor sie das Gerät an ihren Mund führt macht sie einige laszive Ausfallschritte nach den Seiten hin, tanzt einige Pirouetten, springt mehrere Male in einen gestreckten Spagat, läßt sich auf ihr Gesäß fallen, dreht sich, federt wieder auf, wirft das Mikrophon lässig in die Luft, strahlt, fängt es wieder auf, die Musik wechselt zu einem anderen Thema, "Like a Virgin" erklingt. Die Tanzbewegungen werden lasziver, frivoler. Die Bühne wogt, die Madonnaschauspielerin steht nicht einen Augenblick still. Das Lied klingt aus, sie reiht sich wieder in die Gruppe ein, wie ein Tatzelwurm dreht man Spriralen. Von rechts schreitet eine neue Gestalt herbei. Sie trägt die Maske von Adolf Hitler, ein Gesicht, das man auch in dieser Zeit noch erkennt. Hinter ihm eine Gruppe farbiger Akteure, die zusätzlich zu ihrer südseehaften Aufmachung Armbinden mit der Aufschrift ,,SS" tragen.
Die Hitlermaske deutet auf eine Figur- Leander kennt sie nicht, - ein gewisser Kennedy?- oder so ähnlich-Clitton?- keine Ahnung mit den alten Seppen,- die Eingeborenen-SS stürzt auf ihn, andere strömen nach, sie schleppen eine Art Marterpfahl herbei, die Figur wird gepackt, an den Pfahl gebunden und bekommt eine Ledermaske über den Kopf gezogen. Die Schauspielertruppe formiert sich zu einem Rundtanz um den Gefesselten. Die Musik wechselt zu einem monotonen Bongogetrommel. Die ,,SS"- Eingeborenen schwenken im Vorbeilaufen drohend Messer in Lendenhöhe des Angebundenen.
Die Hitlerfigur bekommt eine Peitsche zugereicht und schlägt spielerisch auf den Wehrlosen ein. Die Schauspieler fallen in einen unrtikulierten Wechselgesang. "Ooohoooohooo!" beginnt er, die andere Hälfte der Gruppe antwortet mit einem "Yooohoooohooo!". Hitler wirft die Peitsche dem Batgirl zu, die lustig die Geißelung fortsetzt, ein Akteur reicht ihm das Mikrophon zu, die Bongountermalung bricht ab, Hitler singt die alte Nummer ,,Search and Destroy" - heftig peitscht der Sound durch den Saal. Eingeborenendarsteller bringen einen Schild, heben den Singenden hinauf, er wird emporgehoben, stellt sich in Positur, hört nicht einen Augenblick auf zu singen, feist und breitbeinig steht er da, wippt im Rhythmus des Beats, die Musik kommt schnell und hart.
Der Batman tritt aus der Schar, schwenkt einen Dolch, der im Bühnenlicht aufblitzt, macht einige Tanzrunden um den Gefesselten, baut sich vor ihm auf, wühlt in dessen Hose, fairerweise treffen ihn jetzt auch Peitschenhiebe, macht einige schneideartige Bewegungen, dreht sich wieder nach vorne und schwenkt triumphierend einen riesigen Plastikpenis, von dem reichlich Ketchup oder etwas ähnliches tropft. Das Plastikgerät schwenkend tritt Batman in den Rundtanz zurück. Die Hymne des Kaisers erklingt. Leander bemerkt erst jetzt, daß die Eingeborenen ihre Folkloretracht mit Militäruniformen der kaiserlichen Armee vertauscht haben. Sie bilden im Vordergrund eine Reihe und beginnen mit dem Becken Stöße auf die Gesäße der Vordermänner auszuführen. Die Hitlerfigur stellt sich an das rechte Ende der Reihe und geriert sich als Oberkopulator. "Bildet einen Kreis! Bildet einen Kreis!" kreischt er herrisch. Leander folgte fasziniert dem Geschehen. Plötzlich sah er aus dem Augenwinkel, wie die Person am Nachbartisch einige Anordnungen in ein tragbares Funkgerät plärrte. Kurz darauf gab es einen Tumult, mit klatschenden Stiefeln brach ein Trupp Polizeieinheiten herein und suchte offensichtlich die Veranstaltung abzubrechen. Es lärmte. Tische wurden umgeworfen, Anordnungen gebrüllt, von denen die ,,Licht an! Licht an!" nicht wieder aufhören wollte. Er spürte eine Hand an seinem Arm. Er drehte sich. Die Frau vom Eingang grinste ihn an. Sie blinzelte ihm verschwörerisch zu. Er verstand. Er stand auf, sie zog ihn an die Seite des Saales, eine kleine schwarze Nische nahm sie auf. Sie traten durch eine Tür, ein kurzer Gang, er sah das leuchtende Schild ,,Notausgang". Sie hielt ihm die Tür auf. Das Trinkgeld vorhin war doch gut angelegt gewesen. Leander war völlig im Aufruhr, herausgerissen aus der lustigen Unterhaltung. Ihm schwankten die Knie. Er zitterte. Alles war so plötzlich gekommen. Wenn ihn die Polizeieinheit identifiziert hätte,- Ärger wäre schon 'drin gewesen- so etwas fehlte ihm gerade noch. Er wollte noch einmal zu seinem Geldbeutel greifen, aber die Frau legte ihre Hand auf seine und wehrte das Ansinnen ab. Ratlos stand er einen Moment, irritiert. In einer spontanen Aufwallung drückte er die zierliche Gestalt an sich und drückte ihr einen Kuß auf den Mund. Sie lachte. Sie packte seine Hand und führte sie zwischen ihre Beine. Leander fühlte einen Schwanz. Er mußte auch lachen. Er/sie knuddelte ihn und drängte ihn aus der Tür. Noch ein kurzer Augenblick des Anlachens, dann fiel sie hinter ihm ins Schloß. Leander stand wieder in der modrigen Nachtluft. Er war in einem Hinterhof herausgekommen. Zwischen umgestürzten Mülltonnen, Autowracks und Trümmern suchte er sich einen Weg auf die Straße. Ihre Lichter nahmen ihn wieder auf. Hastig ging er ein paar Blocks weiter. Aus einer Seitenstraße bog der Stricher um die Ecke. Er grinste ihn an.



KAPITEL 6:



Post Coitum Animal Triste Est


Nach dem Zusammenbruch hatte Leander diesen komischen Kerl getroffen, man hätte ihm sein Alter nie angesehen, die Leute hätten nie geglaubt, daß er schon so alt war, daß er das alles persönlich noch erlebt haben konnte, er erzählte von so einer Gang, die er angeblich durch einen Traum kennengelernt hatte,- irgendwie hatte der Traum ihm den Weg gewiesen, die Welt war so unübersichtlich geworden, es war nicht leicht jemand zu treffen, und wenn, meistens war es ja doch unangenehm... oder das Ende. Man sah dieser Tage nicht so viele die noch alle Zwetschgen auf der Birne hatten. Auf jeden Fall, diese Jungs hatten da was ausgeknobelt, wenn man irgendwie was zu Fressen aufgetrieben hatte blieb ja noch so viel Zeit zum Totschlagen über, - es gab nichts mehr, nur noch Trümmer, Dreck, Scheiße, Matsch , ein paar beschissene angefressene Reste... Die Gang hatte da so einen Sport entwickelt- sie fingen Tiere,- davon liefen ja noch genug 'rum- und sahen zu, wie sie ein bißchen Spaß mit ihnen haben konnten. Feine Sache, denn blieb dann noch genug übrig, konnte man die Überreste immerhin noch auffressen. Meist nagelten sie die Dinger mit irgendwas auf dem Boden fest. Dann sägten sie das Schädeldach ab und manschten ein bißchen im Hirn herum. Sie zwangen das Viehzeug auf den Rücken und schnitten Löcher in die Bauchdecke. Sie wickelten das Gedärm um einen Stock oder verteilten es irgendwie. Manchmal waren sie brutal, manchmal ließen sie sich Zeit und gingen etwas raffinierter zu Werke, erst mal 'was abschneiden, was nicht so wichtig war, sich dann zum Kern der Sache vorarbeiten, sozusagen ein stetiger Reduzierungsprozeß, nicht zu schnell zum Wesentlichen kommen, und so. Oft hatten die Jungs auch einfach Druck auf der Pelle und spielten Baggermatsch. Dann gabs halt nix zu Fressen, in dem blutigen Baatz war zuviel Knochenmus, das war nicht mehr zu genießen, verhungern mußte da aber noch keiner, das kam erst später. Da waren die Jungs schon so durch den Wind, wenn gar nichts mehr half manschten sie sich dann gegenseitig, schnitten sich neue Löcher irgendwo 'rein und versuchten sie zum Pimpern zu benutzen, sie trugen nur noch blutige Hautfetzen, Knochen, Teile aus verkoteten alten Teppichen, Leander hatte damals den Eindruck, hätten die Jungs noch mal in ihrem Leben eine Konservenbüchse getroffen, sie hätten nicht gewußt, was sie mit ihr hätten anfangen sollen, aber anscheinend hatten sie an ihren Spaßresten genug, kein Problem-. Die Scheißviecher hatten sich eine Zeit ganz gut vermehrt, war ja auch kein Wunder, niemand, der noch so was wie Kontrolle hatte, es gab auch genug alte Säcke, Kranke, Hilflose, Übergeschnappte, um die sich niemand mehr kümmerte, das war für unsere größeren Fiffis gerade recht, und die Jungs hatten dann Spaß mit Fiffi, als es noch mehr und die alten Worte gab, nannte man das wohl ,,Nahrungskette" oder so ähnlich, Leander hörte irgendwann, die Jungs würden jetzt inzwischen mehr so rohe Bissen aus den Fiffis nehmen.



KAPITEL 7:



Mal kommt der Panzer, mal kommt das Atom


Menschliche Ansiedlungen in Kriegsgebieten ähneln sich überall, seitdem der Krieg technifiziert wurde, und das ist schon eine ganze Weile her. Ganz besonders gilt das für den ländlichen Raum, wo man eher seltener eine exzentrische, futuristische Architektur antreffen wird. Auf dem Land wird mehr gelebt und weniger repräsentiert. Repräsentation existiert auf dem Sektor der sozialen Rollenerwartungen und allgemein gesprochen, der sozialen Rollen überhaupt. Meist ist die Sicht eingeschränkt. Asche ist in der Luft, viel Asche, ein strahlender Sommertag paßt schlecht zum Angesicht des Krieges, meist sorgen die Konsequenzen von Detonationen für die passende Atmosphäre. Ein kleines Dorf, vielleicht letztes Jahr, vielleicht dieses Jahr, mag sein, es war im Großen Krieg, der den jetzigen vielen kleinen vorausging, als die Landkarten so gründlich geändert wurden, wie in Jahrhunderten vorher nicht, ja, wo es sogar nicht zu weit geht zu sagen, weite Passagen von Landkarten konnten ersatzlos gestrichen werden, die Rückkehr der weißen Flecken, nun aber nicht als das Unbekannte. sondern als das Unbetretbare, vielleicht würden dermaleinst, in Äonen, aus diesen Regionen sich ganz erstaunliche Dinge heraus entwickeln, möglicherweise existierten dort Winkel und Ecken, wo es ganz unwahr-scheinlicherweise immer noch möglich war, zu existieren. Sie mochten extrem karg sein, verwüstet ohne Ziel und Gnade, trotzdem, vielleicht, meldete sich doch noch einmal von dort etwas, was immer es auch sein mochte. Es hatte sich eingebürgert, Regionen, von denen keine Informationen vorlagen, entweder grau oder weiß zu markieren, je nach Verlag und Schule, hüten mußte man sich aber vor den Landstrichen, die allgemein und einheitlich rot gekennzeichnet wurden, kartographisch, was in dieser schönen Farbe das Auge an-sprang verhieß Gefahr, das Rot stand für Aktivität, radioaktive Verstrahlung, autonome Rebellennester, Zusammenrottungen nicht mehr gelenkter, ja überhaupt lenkbarer Gesetzlosigkeit, Grauen auf eigene Rechnung, lief man in den sanften weißen oder grauen Zonen lediglich Gefahr, auf etwas übersehenes zu stoßen, hie und da doch letale Reststrahlung oder die dumpfen, aber langlebigen Überreste von B,- und C-Waffen, so verhieß das satte Rot anarchische, anarchistische Zustände, Kräfte, mit denen ein Mensch, der unter dem Schutz seiner eigenen Obrigkeit bleiben wollte, besser gar keinen Kontakt suchte, kurz das Chaos, das Grauen oder wesentlich schlimmeres. Gab es in einer rot markierten Zone Bewohner, so war der Kontakt mit ihnen unter allen Umständen zu unterlassen, wenn man überhaupt von Bewohnern im konventionellen Sinn sprechen konnte. Die Topographie war im buchstäblich globalen Maßstab von den Folgen der diversen kriegerischen Auseinandersetzungen geprägt. Wer seinen Ort wechseln wollte, sich bewegen, obwohl niemand mehr aus reiner Lust reiste, schon längst nicht mehr, einige Privilegierte besaßen zwar immer noch die Möglichkeit, mit Flugzeugen, z.b., an schöne Orte zu gelangen, aber wer Ruhe und Frieden wollte blieb am Besten daheim oder vergnügte sich auf einer der kaiserlichen Orbitalbasen, nur dort war man vor den Wechselfällen anderer Aufenthaltsorte sicher, wie Hungeraufstände, Attentate, Umweltkatastrophen, feindselige &Übergriffe, Geiselnahmen. Oder schlichter, purer Wahnsinn, wenn sich irgendein Zeitgenosse in das Reich unverfälschten Geistesstörung aufmachte und wahllos alles in Reichweite niedermachte. Ein Dorf im Krieg sah überall auf der Welt aus wie ein Dorf im Krieg, die letzten fünfzehn ungrad Jahrzehnte. Nebelschwaden, Tristesse, grau in grau, Menschen mit den Kainsmalen existenzbedrohenden Mangels gezeichnet, immer vom nächsten Schlag bedroht, nie in Sicherheit, nie in Ruhe. Immer gegenwärtig, die nächste Feuerwalze stünde unmittelbar bevor. Ein Dorfplatz, zu Zeiten wo es noch etwas zu handeln gab, fand dort der Markt statt, das Rathaus längst zusammengeschossen, arme Teufel behausten sich mühsam in dessen Kellerräumen. Eine Rotte Kinder spielt auf dem freien Platz, zwischen dem Saum aus verkrüppelten Kastanienbäumen und rachitischen Zierkirschen, sie führen eine Art Rundtanz auf, sich dabei an den Händen fassend, die Schritte sind seltsam ungelenk, aber durchaus rhythmisch.

"Dies Jahr kommt der Panzer- nächst' Jahr das Atom-
was nie kommt ist der Weizen, was nie kommt ists Gemüs
was nie kommt ist der Weizen und die alte Kartoffelei
Dies Jahr kommt der Kaiser nächst Jahr der Chinäs
was nie kommt ist Geld fürs Essen was nie kommt ist Fleisch
was nie kommt ist was in den Topf der Magen,
der Magen bleibt leer, auch egal, nächst Jahr simmer tot..."



Die Kehlen der Kinder sind nicht sehr kräftig, trotzdem hört man das Lied auf dem Platz und in den angrenzenden Straßen. Bei genauerem Hinsehen fällt die ausgemergelte Konstitution der Kinder ins Auge. Was weiter nicht verwundert, ist es doch praktisch überall so. Auseinandersetzungen haben ihren Preis, meistens haben die Bauern die Rolle der Bauern in diesem Spiel. Früher Nachmittag, es gibt nicht viel zu tun. Zeit vergeht wie die graustichige Athmosphäre, oder auch nicht. Fast jedes der Kinder wurde mit Verlust oder Verschleppung konfrontiert, Geschwister verloren, Eltern oder zumindest ein Elternteil verloren, mißhandelt, mißbraucht. Die Augen haben einen tiefen Ausdruck von Trauer, diese ist eins mit der Physiognomie geworden. Ihr Spiel ist ernst, kaum ein Lächeln auf den früh-greisen Gesichtern. Schön wäre es in der Etappe zu leben, hinter den Linien, aber bei der Allgegenwart des Krieges gibt es keinen Raum hinter den Linien mehr, so wie es eigentlich auch keine Linien mehr gibt, sondern nur noch Eruptionen von Gewalt und Zerstörung. Kollaborateure werden in den umliegenden Wäldern oder in deren Resten erschossen, manchmal gibt es nichts zu kollaborieren, was gleichgültig ist, dann werden solche ernannt und das Verfahren bleibt das gleiche. Die Eltern, so sie noch leben, der Kinder sind mit dem großen Geschäft der Epoche befaßt, nämlich zu versuchen, das Überleben zu sichern, oder, falls es einmal hoch kommen sollte, etwas, was für den Augenblick eine Andeutung von Erleichterung schafft, technischen Alkohol zum Beispiel. Die Kinder erstarren. Die jüngeren haben noch die Fähigkeit zu weinen, die älteren haben diese längst verloren. Keines von ihnen verfällt in Panik, diese Lektion haben sogar schon die allerjüngsten begriffen, wenn das Schicksal zuschlägt, schlägt es zu, zu ändern ist daran nichts. Fern grollt ein fast unirdisch anmutender Donner. Der Tanzkreis zerstreut sich in alle Winde, jedes sucht sich in Sicherheit zu bringen. Zu spät, man hört das sonore Jaulen moderner Triebwerke, eine Staffel Jagdbomber fliegt das Dorf an, wahrscheinlich aus Mangel an einem wirklich lohnenden Ziel, das Soll muß erfüllt werden, Bomben sind zum Abwerfen da, die Semantik von Waffen bezieht sich nicht auf irgendeinen Sinn, sondern auf den reinen Zweck, und der ist benutzt zu werden. Eine ungeheure Feuerwalze rollt über das Dorf, der Dorfplatz füllt sich mit dem Schutt der zerberstenden Gebäude seiner Umgebung, was noch stand, jetzt steht es nicht mehr, die Kakophonie der Detonationsgeräusche füllt das gesamte Hörspektrum, tieffrequente Symphonie des Unheils, menschliche Laute wären in einem solchen Höllenquirl sowieso nicht zu vernehmen, darum wird es auch keine geben, oder gar gegeben haben, es wird wohl schnell und eher still aus dieser Welt geschieden werden. Mit einiger Sicherheit hat von Teilnehmern des nachmittäglichen Tanzspiels keines überlebt. Das allgegenwärtige Grau wird durch den neuerlich aufgewirbelten Staub indes nicht noch stärker.



KAPITEL 8:



Goethe goes to Buchenwald


"Der Goethe den ich kannte, war kein Nazi, Luis Trenker aber schon!"

( Volksmund )



Hartmut Schlonz kehrte von seiner Schicht in der Drogen-, und -Pharmazie-fabrik zurück. Mit ihm war heute nicht mehr viel los, so oder so. Wenigstens war seine Gattin offenbar ausgegangen, in letzter Zeit war er einfach nur froh, wenn er seine Ruhe hatte, wenn er von seiner aufreibenden Tätigkeit nach Hause kam. Er duschte mit dem schwefligen, brackigen Leitungswasser, jedesmal verfluchte er es mit Herzensinbrunst, er versuchte sich mit dem altbackenen besser als nichts ,, zu trösten, aber es gelang ihm nicht so recht. Na ja, die üppigen alten Zeiten kamen wahrscheins so oder so nicht wieder, besser sich mit dem Dreck, in dem man steckte, abfinden. Er untersuchte sich routinemäßig auf etwaige auffällige körperliche Veränderungen, bei den alten, wrackigen Anlagen in seiner Fabrik wußte man nie was man sich da etwa holte, genauso, er lockerte gern das Eheleben mit den zeitweise recht preisgünstigen Angeboten des Straßenstrichs auf, neue Krankheiten auf diesem Sektor, böse Frau Venus, kamen und gingen ja in bunter Folge, sein Stammplatz war eine Kriegsbrache, unweit der alten Oranienburgerstraße, bis zu den ersten heftigen Schlägen die beste Adresse, Prachtbauten ohne Ende, Glas, Glas und noch mehr Glas, aber diese Zeit hatte er nicht miterlebt, auch konnte er nicht von den einschlägigen Traditionen dieses Ortes ahnen. Heute entdeckte er aber keine Neuerungen an sich, die Harnröhre war auch brav und brannte nicht, das einzige was sich veränderte waren die immer runzliger werdenden Haut und die jahresringartigen Vergrößerungen seines enormen Bierbauches. Mürrisch säuberte er sich unter der piefigen Brühe. Sein Bauch brachte ihn auf die Idee des Abends. Schnell trocknete er sich ab und schlurfte, nur mit seiner weitläufigen Trainingshose bekleidet, in die Küche, schmierte sich Brote und bewaffnete sich mit genügend lecker Bierdosen. Er knallte sich in seinen Lieblingssessel. Der Fernseher erwachte zu flirrendem Leben. Soviel Programme wie es wohl früher einmal gegeben haben sollte hatten sie heute aber nicht mehr. Einige Nachrichtensendungen mit Ausschnitten aus den Kaiserreden des Tages übersprang er. Genauso einen Dokumentarfilm über den früher geübten Brauch des Sammelns von sogenannten Briefmarken. Die Pornos kamen erst später, und das war gut so, denn dann war er besser in Stimmung dafür. "Aufgeilerei zu früh am Abend ist blöd" war eines seiner ständig repetierten Lebensmotti. Er kaute, wobei er sorgsam darauf achtete, genug Bier unter die Masse in seinem Mund zu mengen. Einen kurzen Augenblick widmete er sich der "Täglichen Heerschau", die spezielle Nachrichtensendung über den Fortgang der diversen kriegerischen Auseinandersetzungen. Richtig aufmerksam wurde er erst, aufgeschreckt nippte er heftiger an seinem Bier, als ein Film über den verstorbenen Dichter Goethe angekündigt wurde. Kultur interessierte ihn schon immer noch, das schien ihm ein angemessenes Gegengift gegen die Gleichförmigkeit seiner Tage in der Fabrik. In der Schule, so es eine gab, hörte man zwar nichts mehr von Gedichten, aber eine Persönlichkeit, die man in der alten Republik so hochgeschätzt hatte, man sagte ja, damals wäre es allen besser gegangen, was er eigentlich auch glaubte, wenn er mit den Überresten vergangener Pracht konfrontiert wurde. Heute machte er in Kultur, er zog einen Hocker vor den Sessel und legte die Beine hoch. Der Film begann mit Landschaftsaufnahmen. Eine angenehme Stimme begann den Kommentar dazu zu sprechen. "Jeder weiß, der Geheimrat Goethe war nicht nur ein großer Dichter und in höchsten Staatsämtern tätig, nein, er war auch ein Naturforscher und fanatischer Sammler der verschiedensten Gegenstände und Sachgebiete. Nur als Beispiel, immer faszinierte ihn das Phänomen nicht-existierender Briefmarken.
So oft ihm seine Tätigkeit für den sächsischen Staat und das dauernde Dichten Zeit ließen, natürlich unter der Voraussetzung, es stand keine einschlägige Lustbarkeit mit Frauenspersonen an, beschäftigte er sich mit seiner komplexen Sammlung nicht-existierender Briefmarken, die er im übrigen als naturwissenschaftlich gebildeter Mensch als Irregularitäten im Photonenaustausch noch überwiegend instabiler neu gebildeter schwarzer Löcher deutete. Im Lauf der Zeit gelang es ihm eine stattliche Anzahl dieser Objekte zusammenzutragen. Für diese Fachsammlung vernachlässigte er sogar zeitweise sein Herbarium, seine geliebten Mineralien, seine Schwarzwälder Kuckucksuhren, seltener jedoch die Frau von Stein, denn dort gab es etwas anderes zu sammeln, nämlich angenehme Sinneseindrücke und geschlechtliche Erfahrungen. In düsterster Zeit, im sogenannten Zweiten Weltkrieg saß ihro Herr Geheimrat gerade einmal in seinem Büro, als das Telephon klingelte. "Hallo Heil Hitler, hier Goethe!" salbaderte er unverfänglich in die Sprechmuschel. Den ersten Teil seiner Meldung mochte er gar nicht, stand er doch in diesem Fall unter Zwang, die braunen Herren mochte er gar nicht. Hatte er anfangs noch mit gewissen esoterischen Ideen des Nationalsozialismus sympathisiert, so waren doch spätestens als sein Freund Schiller in einem Gestapo-Keller sein Leben ausgehaucht hatte, Zweifel an dieser Weltanschauung in sein Leben getreten. Er wußte genau, mit diesen Kerlen war nicht zu spaßen, Kultur hatten sie auch keine, und dann immer dieser Heidegger, der ging ihm ja ganz besonders auf die Nerven. An diesem, etwas trüben, Morgen, so erfuhr er telephonisch, habe man bei einer Gruppe frisch eingelieferter Häftlinge im nahegelegenen Konzentrationslager Buchenwald einen größeren Posten nicht-existierender Briefmarken entdeckt, einige wiesen sogar im Schwerhadronenbereich neuartige Quantensingularitäten auf. Goethe war alarmiert. Gier! Die Stimme wußte genau, wie der Geheimrat zu packen war. Zögerlich, aber unmißverständlich, wurde ihm erklärt, der Posten der heißen Ware würde in seinen Besitz übergehen, wenn er seine bekannten Ressentiments gegen das nationalsozialistische Regime aufgeben würde. Als Beweis für seinen Sinneswandel könne er zum Beispiel sein bekanntes Bühnenstück "Faust" in , "Hitler" umbenennen, beziehungsweise umschreiben, als neues Thema böte sich doch des Führers Weg zur Macht und damit zur absoluten Weltherrschaft an. Goethe stockte das Blut in seinen Adern. Auf so eine Entwicklung der Dinge war er nicht vorbereitet gewesen. Gewissen und Versuchung begannen sich in seinem Kopf zu widerstreiten. Sein Atem ging stoßweise, sein Gesicht lief rot an, Schweiß trat ihm auf die Handflächen. "Zeit gewinnen!" schoß es ihm durch den Kopf. Seine vielerorts gerühmte Intuition ließ ihn nicht im Stich. Vorsichtig bedeutete er dem Anrufer, wenn ihn sein Gefühl nicht trog, der Betreffende hatte sich ihm nicht namentlich bekannt gemacht, mußte es sich bei der Person am anderen Ende der Leitung um Rudolf Heß handeln, er müsse sich erst ein Bild über die Ware machen, bevor er nicht definitive Gewißheit über ihre Qualitäten habe, könne er zu einem wie auch immer gearteten Geschäftsvorgang keine Stellung beziehen. Der Anrufer ging auf diesen Wunsch ein. Man habe eine solche Entwicklung selbstverständlich absehen können. Sein Wunsch nach einer objektiven Prüfung des Materials sei das Naheliegendste, die einschlägigen Autoritäten in Buchenwald habe man vorab informiert, er solle dort vorstellig werden und jedem seiner Wünsche und gewiß allen seinen Ansprüchen würde dort entsprochen werden. Die Asservaten lägen dort zu einer genauesten Begutachtung bereit. Goethe stammelte ein unverbindliches "in Ordnung, Heil Hitler!", der Hörer krachte schwer auf die Gabel. Düster starrte er aus seinem Bürofenster in diesen grau-nebligen Weimaraner Morgen. So sehr sich sein Sammlerherz und die naturwissenschaftliche Seite seiner Seele an nicht-existierenden Briefmarken begeisterte, so wenig war ihm an einem Arrangement mit den braunen Machthabern gelegen. Und eines der großartigsten Werke seine Dichtkunst aus opportunistischen Motiven,- nein, er war doch nicht Heidegger!,- verhunzen zu lassen, eine Aussicht, die mit einem Maul voll Dreck auf exakt gleichem Fuße stand. Sicher, die Nationalsozialisten hatten die Renovierung seines geliebten Weimarer Nationaltheaters bezahlt, nachdem Peter Zadek es angezündet hatte, sie hatten nichts gegen den Verbleib seiner literarischen Arbeiten in den Schullesebüchern, sie stärkten das Ansehen lediger Mütter gegen kleinbürgerlicher Ressentiments, ihr Einsatz für den Naturschutz und die Fortentwicklung der Wissenschaften war beispielhaft,-... - Aber: das Schicksal seines tragischen Freundes Schiller, die faktische Entmachtung seines geliebten Fürsten Carl-August, selbiger war jetzt praktisch nur noch eine Marionette, er hatte sein prächtiges brokatdurchwirktes Fürstengewand mit kniehohen schwarzen Stiefeln, brauner Hose und braunem Hemd vertauschen müssen, er war jetzt nicht mehr mit dem korrekten ,,Eure ehrwürdige Hoheit, erlauchter Fürst!" anzureden sondern mit einem schnarrend-prolligen ,,Heil, mein Gauleiter!", das war doch nicht recht! Ihm waren überdies gerüchteweise weitere unschöne Dinge zu Ohren gekommen, viele seiner Kollegen hatten sich offensichtlich nur durch Flucht in das Ausland einem tragischen Geschick entziehen können, seinem lieben Freund Schiller war das nun ja nicht mehr vergönnt gewesen... Seine eigene Position war ihm bis zum heutigen Morgen relativ unangefochten erschienen, Kabbeleien hatte es immer gegeben, auch dumpfe Drohungen niederrangiger Chargen, aber im Großen und Ganzen hatte er schon aus Gründen seiner internationalen Prominenz für sich auf eine Art unausgesprochene Immunität gerechnet. Denn, so mußte er sich zugestehen, dieser Vorschlag roch nach einer Falle! Andererseits, sollte es sich wirklich so verhalten, -bisher unbekannte, ungesehene Exemplare seiner so abgöttisch geliebten nicht-existierenden Briefmarken; vielleicht mit diesem neuen Fundus tiefer in das Geheimnis ihrer Existenz eintauchen zu können...., neue Aufschlüsse über ihre Physik, ja vielleicht sogar über ihre Metaphysik zu eröffnen... Er fühlte, wie der Teufel nach seinem Herzen griff. Er begann unruhig auf und ab zu gehen. Er schwitzte im Nu sein Wams durch. Pflicht und Neigung stritten sich in seiner Seele. Sein apolitisches Sein hatte sich selbst ad Absurdum geführt, dies war der Nadir seiner persönlichen Integrität. Das jähe Schrillen des Telephons riß ihn aus seinen düsteren Gedanken. Er zögerte einen Augenblick, aber schließlich obsiegte die Neugier. "Wer da ?" seufzte er seinsmüde. "Mein Geheimrat!" tuschelte es im Hörer. Sofort erkannte Goethe die Stimme seines treuen Lebenskameraden Eckermann, wegen der krankhaften Homophobie der Nationalsozialisten gaben sie ihr Verhältnis als eines von Diener und Herr aus, obwohl es sich doch um eine Beziehung von tiefer Liebe handelte. Zum Glück hatte er, Goethe, noch rechtzeitig seine Ballade ,,Die Bisexualität" vor der nationalsozialistischen Machtergreifung verschwinden lassen können. Eckermann mußte seiner Stimme nach extrem beunruhigt sein.
"Johnny..." , wenn sie unter sich waren sprachen sie sich selbstredend mit Neck-, -und Vornamen an. "Man will Dir eine Falle stellen!" setzte sein Lebensgefährte die vertrauliche Instruktion fort. Wie der Geheimrat erfahren mußte, habe die Frau von Stein, die nicht nur zu ihm ein amouröses Verhältnis pflog, sondern auch ebenso gerne in den Gärten der Sapho lustwandelte, von ihrer Geliebten, der Gattin des einschlägigen SS-Obersturmbannführers Luschenhuber erfahren, alles sei nur eine Finte um ihn nach Buchenwald hinauszulocken um ihn dort unauffällig festzusetzen. Gleich nachdem sie von diesen Umständen erfahren habe, hätte sie natürlich gleich den treuen Eckermann davon in Kenntnis setzen müssen, und so weiter und so fort. Eckermann röchelte alarmiert, es knacke verdächtig in der Leitung. Seine Stimme erstarb mit einem jähen Blubbern. Goethe konnte sich jetzt keine Sentimentalitäten leisten. Den Verlust seines Lebensgefährten mußte er hinnehmen. Der alerte Geheimrat war nicht für Begriffsstutzigkeit bekannt. Aus seinen Schreibtischschubladen riß er Papiere und Devisen, seine goldene Eurocard führte er sowieso immer in einer Gesäßtasche mit sich. Er hatte immer ein Aktenköfferchen mit dem Allernotwendigsten in Bereitschaft, denn er spielte gerne das Spiel das er feixend ,,Crusin' for Prick 'n' Pussy!" nannte, welches ihn oft in gänzlich fremde Haushaltungen spülte...
Er raffte alles zusammen, unerkannt konnte er in wenigen Stunden an der Schweizer Grenze sein, mit seinem internationalen Renommee würden ihm die Eidgenossen jederzeit Asyl gewähren. Um für seine Umwelt gänzlich unkenntlich zu werden zog sich Goethe seine schwarze Maske aus dem venezianischen Karneval an. Derartige Modelle trug man in Weimar gerne, wenn man unerkannt auf Orgien und andere Lustbarkeiten zu gehen wünschte. Er suchte sich einen verschlafenen Taxifahrer und lotste ihn an die Schweizer Grenze, die Flughäfen würde man zwischenzeitlich ja wohl schon überwachen. Mit einem Schlag fiel Hartmut Schlonz von seinem Lieblingssessel. Hatte er länger geschlafen oder war er nur einen Augenblick eingenickt? Die Arbeit in seiner "verschissenen Fickfabrik" zehrte doch mehr an seiner Substanz, als er sich für gewöhnlich eingestehen wollte. Aufgekratzt registrierte er daß das kleine Nickerchen ihn mit einer kapitalen Abendlatte versorgt hatte. Und knarrte da nicht der Schlüssel seiner Göttergattin im ausgewetzten Schloß? Hastig streifte er sich seine schäbige Trainingsanzughose auf die Knöchel hinunter.... es ging doch nichts über einen standesgemäßen Empfang!